Man kann den 11. September 2001 als eigentlichen Beginn des 21. Jahrhunderts betrachten. Am Nachmittag begleitete eine “ZiB”-Sondersendung die Terroranschläge in den USA. Am Abend spielten Depeche Mode in der Wiener Stadthalle eines der besten Konzerte, das ich je besuchte. Die Welt stand im Schock, doch ahnte da noch kaum jemand, wie sehr die Ereignisse dieses Tages die folgenden Jahrzehnte beeinflussen würden.
Einen Monat nach den Anschlägen sprach der damalige US-Präsident George W. Bush von einem “Krieg gegen den Terror”. Wenig später begann die Invasion in Afghanistan, es folgten jene im Irak und ein Drohnenkrieg in unzähligen Staaten Afrikas und Asiens, der unter Barack Obama weiter intensiviert wurde. 20 Jahre später zogen die USA nun schlagartig aus Afghanistan ab, und der aktuelle Präsident Joe Biden hat den “Krieg gegen den Terror” für beendet erklärt.
Seit 9/11 sind dem von den USA und ihren Alliierten geführten “Kampf gegen den Terror” weltweit fast eine Million Menschen zum Opfer gefallen. Zusätzlich soll er insgesamt mehr als acht Billionen US-Dollar gekostet haben, so eine Studie der Brown University. Wie Biden betont, war das Ziel die Zerschlagung der Al-Kaida-Netzwerke, und Afghanistan sollte keine Basis mehr für Anschläge in anderen Ländern sein – kein ursprüngliches Ziel war das “nation building”, also der Aufbau einer funktionsfähigen Zentralregierung in Kabul. Die USA sind in beiden Punkten völlig gescheitert.
Nach einer Schwächephase am Ende der 2000er Jahre erholte sich Al-Kaida wieder. Zwar besteht weniger Interesse für Anschläge im Westen, von den Ablegern in Südostasien und in Sub-Sahara-Afrika geht aber beträchtliche Gefahr aus. Daneben entstanden neue dschihadistische Bewegungen mit regionalem Einfluss, die wie der IS auch staatsähnliche Strukturen aufzubauen vermochten und das Potenzial für regelmäßige Anschläge in Europa hatten. Der Krieg gegen den Terror vermochte es nicht, die terroristischen Strukturen dschihadistischer Bewegungen zu zerschlagen.
Sinnlose Terrorabwehr
Neben diesem Kampf, den Militärs, Geheimdienste und private Sicherheitsfirmen führen, hat 9/11 das Leben der Menschen weltweit verändert: Neue Antiterrorgesetze schränken zunehmend die Grund- und Freiheitsrechte ein. Wir müssen uns oft quälend lange an Flughäfen anstellen, um Sicherheitskontrollen über uns ergehen zu lassen, obwohl belegt ist, dass diese kaum Terrorabwehr bieten. Vor Jahren führte das US-Ministerium für Innere Sicherheit einen Test an US-Flughäfen durch. Mitarbeiter versuchten dabei 70 Waffen und Sprengsätze im Handgepäck an Bord zu schmuggeln – bei 67 gelang es. Für viele andere Menschen stellt sich dieses Problem gar nicht, denn sie wurden auf eine der nach 9/11 hastig zusammengestellten Flugverbotslisten gesetzt. Vielen politischen Aktivisten von Umwelt- und Tierschutzgruppen war es plötzlich nicht mehr möglich zu fliegen.
Mit der Einschränkung der Bürgerrechte und dem schrittweisen Aufbau verstärkter staatlicher Überwachung etablierte sich ein Angstszenario. Diese Furcht vor Terroranschlägen wird politisch instrumentalisiert. Auch in der Migrationsdebatte von 2015 und heute im Zusammenhang mit der Situation in Afghanistan schwingt die Gefahr vor Anschlägen, die durch angeblich gewaltbereite Migranten verübt werden könnten, mit. Wenig Beachtung in der Diskussion findet der Umstand, dass afghanische Migranten selbst vor zwei Formen des Terrorismus flüchteten: dem staatlichen Terror der USA und dem dschihadistischen Terror der Taliban.
Gefahr von Anschlägen sinkt
Auch im akademischen Bereich etablierte sich die Beschäftigung mit dem Terrorismus und den Fragen, wie er verhindert werden kann. War das Feld noch ein Stiefkind der Internationalen Beziehungen, wuchsen die “Terrorism Studies” nach 9/11 rasant. Neue Fachjournale und Buchreihen entstanden, und heute kann überall auf der Welt ein Master in Terrorabwehr absolviert werden. Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hat die ununterbrochene Beschäftigung mit Terrorismus durch Politik, Wissenschaft und Medien als “Terrorhysterie” bezeichnet.
Der Soziologe Zygmunt Bauman schrieb 1995, dass die Lager das prägende Merkmal des 20. Jahrhunderts waren. Das lange “Jahrhundert der Lager” begann mit den Internierungslagern in den Kolonien in Indien, in Afrika, auf Kuba und auf den Philippinen. Die Lager des 21. Jahrhunderts sind zumeist eine direkte Konsequenz des Krieges gegen den Terrorismus, wie Guantanamo oder die kurdischen Lager mit IS-Kämpfern in Nordsyrien. Auch den muslimischen Minderheiten der Rohingya in Myanmar und den Uiguren in China wird Terrorismus vorgeworfen – als Vorwand, um sie massenhaft zu internieren.
In Analogie zu Bauman können das 21. Jahrhundert das “Jahrhundert des Terrorismus” sprechen. Dieses begann am 11. September 2001. Doch bisher prägt es mehr die Beschäftigung mit als die Gefahr von Terror. In Europa und den USA ist die Gefahr, Opfer eines Terroranschlags zu werden, heute viel geringer als früher. Laut einer Studie des “Economist” war die Terrorgefahr in Europa in den 1970ern und 1980ern auf einem Höhepunkt. Seit 1992 sinkt europaweit die Anzahl der Toten durch Terroranschläge stetig. In den USA lag die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terroranschlags zu werden, im Jahr 2001 bei 1:100.000, 2013 nur noch bei 1:56.000.000.
Nach 9/11 musste IRA aufgeben
Laut der SIAS Terrorism Risk Ratings Database besteht derzeit in keinem Land des globalen Nordens, außer in Frankreich, eine akute Terrorgefahr. Seit 2007 fanden 60 Prozent aller Terroranschläge im Irak, in Afghanistan, in Nigeria, in Somalia oder in Pakistan statt. Nur 14 Prozent wurden außerhalb des Mittleren Ostens, Zentralasiens oder der Sahel-Zone verübt. Es gibt unzählige Studien, die zeigen, dass die Terrorgefahr im 21. Jahrhundert nicht gestiegen ist, sondern sich verlagert hat. Eine Studie im Fachblatt “Journal of Aggression, Conflict and Peace Research” hat Selbstmordanschläge zwischen 1981 und 2019 untersucht. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass nach 9/11 die Zahl der Selbstmordanschläge signifikant sank – nur in einer Weltregion gab es einen Anstieg: in Sub-Sahara-Afrika.
In manchen Regionen hat 9/11 sogar das Ende von gewaltsamen Konflikten beschleunigt. So war die IRA im Nordirland-Konflikt abhängig von politischer und finanzieller Unterstützung aus den USA. Durch die neue Gesetzgebung zur Verhinderung von Terrorfinanzierung nach 9/11 fiel diese Unterstützung weg, und so war die Organisation gezwungen, 2005 ihre Entwaffnung zu verkünden.
Das “Jahrhundert des Terrorismus” charakterisiert sich nicht durch die reale Gefahr, die im globalen Norden vom Terrorismus ausgeht, sondern durch die Instrumentalisierung des Terrorismus durch Politiker, Medien und die breite Öffentlichkeit. Das wird auch in Zukunft so sein – das “Jahrhundert des Terrorismus”, das vor 20 Jahren begonnen hat, wird kein kurzes Jahrhundert sein.